
Ich hab ja vor ein paar Tagen die 2025er Gartensaison eröffnet, seitdem keimen 25 Tomatensorten fröhlich in ihren Ziplocbeuteln vor sich hin. Beim Schreiben kamen mir die Anonymen Gärtner wieder in den Sinn – die hatte ich irgendwie total verdrängt. Da mir die Geschichte so viel Spaß gemacht hatte, stand eigentlich fest, dass ich die Gruppe durch ihre Sitzungen im Laufe des Gartenjahres begleiten wollte. Irgendwie hatte ich die dann aber wieder vergessen…
Deshalb mach ich jetzt nen neuen Anlauf, vielleicht wird ja diesmal ne Serie draus.
Hoffe euch gefällt’s.
Montag Abend, kurz vor 20 Uhr. Der Stuhlkreis ist reichlich zur Hälfte besetzt, wie immer. Die vielen leeren Plätze stören niemanden. Wie immer.
Irgendwie kippt die „Wir warten noch auf Neuzugänge“-Phase in die „Jetzt-geht‘s-los“-Phase. Ein stiller Beobachter würde vergeblich nach konkreten Auslösern suchen. Subtile Gruppendynamik oder Gärtnertelepathie, who knows.
Vermutlich hat Jürgen einfach beschlossen, dass er jetzt mal loslegen sollte. Werden ja alle nicht jünger. Er räuspert sich kurz, wartet noch einen Moment, um den Anderen Gelegenheit zu geben, ihre Gespräche stressfrei auf nach der Runde zu vertagen. Er verzichtet wie immer auf ein langatmiges Intro.
„Tagesordnungspunkt eins: LED oder Fensterbank?“, sagt Jürgen und klappt sein Notizbuch auf.
Es ist Ende März, seit längerem frostfrei, daußen nieselt es den dritten Tag. Die Anonymen Gärtner haben sich wieder im Gemeinschaftsraum des Kleingartenvereins „Immergrün“ versammelt. Die Luft riecht nach frisch geöffneter Thermoskanne plus einem leichtem Hauch Kompost, der aus den Profilen der Gartenschuhe duftet.
Doris meldet sich sofort. „Ich probiere dieses Jahr südfranzösische Paprika aus. Die brauchen Liebe. Und 3.000 Kelvin.“ Sie lächelt verliebt und holt ein Foto aus ihrer Tasche. Darauf: ein Dschungel aus Minipflänzchen unter einem Gestell aus Altholz, LED-Leisten und etwas, das aussieht wie ein ausgedienter Wäscheständer.
„Recycling trifft Photosynthese“, murmelt Uwe anerkennend.
Tobias kontert: „Ich bau mir meine Lampen auch wieder selbst. Alte PC-Netzteile, Billig-LEDs aus Shenzhen. Die sind besser als immer gesagt wird, ich hatte da noch keinen Ausfall. Die meisten kommen mit passiver Kühlung aus. Ich hab mir ne Kiste mit recycelten CPU-Kühlkörpern in der Bucht geschossen. Nur der leistungsstärkste COB hat nen Lüfter von ’nem alten Beamer drauf.“
„Was ist ein COB?“ Fragt Doris.
„Chip on Board. Da sind die LEDs direkt auf ner Aluplatine drauf, so kriegst du mehr davon auf ner kleinen Fläche unter. Sehr hell, irre billig, wird durch die Leistung aber auch ordentlich heiß. Passive Kühlung reicht da nicht mehr, da muss irgendein Lüfter die Wärme abführen. Aber Lüfter kosten selbst neu nicht viel, gebraucht sowieso nicht, und die brauchen auch nicht so viel Leistung. Hab noch welche rumliegen, falls jemand einen braucht. Läuft bei mir jetzt seit zwei Wochen stabil. Meistens.“
„Was passiert, wenn’s nicht stabil läuft?“ fragt Daniel vorsichtig.
„Dann riecht’s halt warm. Die Pflanzen wachsen trotzdem. Bis zu einem gewissen Punkt.“
Mandy, die währenddessen einen Eierkarton öffnet, in dem Basilikum-Pflänzchen wohnen, mischt sich ein. „Ich bleib dabei und schwör auf die Fensterbank. Ostseite im Treppenhaus. Morgensonne, kein Stress. Und keine Stromrechnung, die aussieht wie der Heizplan vom Botanischen Garten.“
Tobias grinst und nimmt den Seitenhieb sportlich. Stromrechnung ist hier kein Reizthema, da gibt‘s andere.
„Hab aber auch Glück und sehr viele Ostfenster, hat halt nicht jeder.“ wirft sie ein, nur zur Sicherheit, damit das keiner als Angriff oder Ablehnung versteht. Überflüssig, denn hier weiß jeder, dass keiner so tickt.
„Apropos Stress“, wirft Doris ein, „Habt ihr eure Quickpots schon vorbereitet?“
Ein Raunen geht durch die Runde. Egal ob Kunstlich oder Fensterbank, gekaufter Spezialdünger oder selbstgebraute Brennesseljauche: Die Quickpot Vorzuchtplatten sind ein gemeinsamer Nenner. Teuer, aber letzlich alternativlos. Jürgen führt eine Excel-Liste mit dem idealen Lochdurchmesser für die verschiedenen Gemüsesorten.
Selbst die größten Sparfüchse schwören auf die original Quickpots – nachdem sie alle Schnäppchenvarianten durchprobiert hatten. Die aktuelle Stuhlkreisbesatzung hat ihre Erfahrungen gemacht, käme jetzt ein noch unüberzeugter Neuling dazu, würde man ihn oder sie geduldig durch die Lernkurve begleiten. Ohne ein „haben wir dir doch von Anfang an gesagt“ am unvermeidlichen Punkt der Einsicht. Jedenfalls keines ohne freundliches Augenzwinkern. Been there, done that.
„Klar doch.“
„Bin grad drüber.“
„Mach ich am Wochenende.“
„Oh, danke für‘s Erinnern – ich brauch noch drei von den Kleinen!“
Das Thema ist schnell durch, keine Detailfragen. Unten ein Fitzel Schafwolle in die Abflusslöcher stopfen, Erde drauf, fertig. Die einen nehmen gesiebten Kompost, andere abgemagerte Anzuchterde (keiner kauft die mehr fertig, alle mischen sie selbst an). Alles schon durchgekaut. Mehrfach.
„Ich hab ne Frage“, sagt Daniel, der wie immer etwas nervös auf seinem Stuhl wippt. „Wann… also ab wann stellt ihr eure Pflanzen raus? Zur Abhärtung?“
Totenstille. Definitiv kein gemeinsamer Nenner, das Thema.
Doris die Basilikumpflänzchen zur Seite, die sie eben von Mandy bekommen hat und hebt andeutungsweise die Hand. „Ich richte mich nach dem Mondkalender. Nur bei abnehmendem Mond, und nie wenn Merkur rückläufig ist.“
Kurzes Schweigen.
Wenige sind beim Mondkalender so hardcore wie Doris, aber keiner kritisiert das oder macht Witze drüber. Jeder hier hat ein paar spezielle Eigenheiten, und alle sind dankbar darüber, dass es hier niemanden mit Missionars-Reflex gibt.
Uwe schneuzt sich und begutachtet scheinbar konzentriert sein Taschentuch, als ob er darin die Karte von Mittelerde studiert. „Ich hab ein Min/Max-Thermometer auf der Terrasse. Wenn’s nachts über zehn Grad bleibt, geht’s raus. Aber trotzdem nur tagsüber, abends kommt alles wieder rein.“
Jürgen blättert schon in seinem Notizbuch, ohne Hektik und immer bedacht, dass keine der vielen losen Blätter rausfallen. „Ich habe da ne Tabelle. Durchschnittliche Bodentemperaturen über eine Woche, Sonnenscheindauer und Luftfeuchtigkeit. Fünf Jahre Rückblick. Wenn die Mittelwerte stimmen, raus damit. Kann ich dir mailen. Oder ich stell‘s in die Gruppe. Ist aber erstmal nur ne Langzeitstudie, also keine Garantie.“ Die anderen nicken. Jürgen übertreibt die Excelei oft ein bisschen, aber jeder hier überfliegt zumindest seine Tabellen. Einige Ältere hatten ihren Excel-Erstkontakt mit einer von Jürgens Gartentabellen.
Mandy grinst. „Ich nehm einfach meinen kleinen Zeh. Wenn der draußen nicht friert, dürfen die Tomaten auch mal schnuppern. Nein, im Ernst: So‘n bissel nach Gefühl. Im Zweifel halt übervorsichtig sein und noch nen Tag warten.“
Tobias runzelt die Stirn. „Ich probier dieses Jahr so ’ne neue Wetter-App aus. Ansonsten das Gelbe Heft und nach Bauchgefühl.“
„Und düngen?“ fragt Daniel. Wieder ist er es, der das Thema auf das nächste Level hebt. „Wann? Und womit?“
Doris: „Stark verdünnte Brennnesseljauche. Betonung auf ‚stark‘. Ab dem dritten echten Blatt. Viele machen das schon ab dem ersten, aber ich warte bissel länger, damit die Pflanzen mehr in ihr Wurzelwerk investieren. Musst das Zeug halt schon im Herbst ansetzen, jetzt gibt‘s ja noch nicht genug junge Brennesseln. Keine Sorge, das hält sich gut über Winter, kann auch ruhig einfrieren. Pass nur auf dass deine Eimer durch den Frost nicht reißen, sonst läuft dir die Brühe aus. Gibt je nach Unfallort ne kleine bis mittelschwere Sauerei. Glaub mir, im Gartenhaus willst du die Brühe nicht ausgelaufen haben, den Geruch kriegst du über Monate nicht raus. E-kel-haft, wenn das in der Bungalowküche passiert. Mach beim Ansetzen der Jauche am besten ne Schippe Urgesteinsmehl mit rein, das bindet den Geruch. Ist ja auch als mineralischer Dünger gut, das Zeug, haben wir ja eh alle da.“ Sie grinst, die Anderen nicken. Daniel auch.
Mandy ergänzt: „Pferdeäppel-Tee. Hab ich letztes Jahr ausprobiert, klappt überraschend gut. Ein Teebeutel pro Liter, ziehen lassen, nicht trinken.“ Wieder Grinsen. Mandy hatte zum letzten Treffen ausführlich davon berichtet, einige werden das dieses Jahr auch ausprobieren.
Uwe: „Wurmtee und Wurmhumus. Selbst gemacht. Das Zeug lebt. Natürlich verdünnen, wisst ihr ja.“ Nicken. Wurmfarmen haben alle schon gehört und viele selbst ausprobiert. Die meisten draußen, die Mutigen Wurmkisten im Haus. Das Thema sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff, denn aller paar Monate kippt so ein System bei irgendwem. Oder jemand will neu anfangen und sucht Start-Würmer. Oder jemand hat ne neue Variante in irgendeiner Online-Gartenbubble entdeckt.
Die Pause dauert etwas länger. Scheinbar hat keiner weitere Beiträge.
Jürgen kramt ein neues Blatt hervor. „Ich hab übrigens eine aktualisierte Keimgeschwindigkeitstabelle mitgebracht. Berücksichtigt jetzt auch die Musik. Hatte euch doch erzählt dass ich in den beiden Kellern nebenan dieses neue Experiment am Laufen hab.“
Alle horchen auf. Jürgen hatte sein Musik-Experiment neulich angekündigt. Auf der Originalitätsskala der Gruppe war das definitiv im obersten Quartil. Die geerdeteren Gärtner waren skeptisch, andere vom Erfolg sofort überzeugt („Ich hab dazu schon mehrere youtube-Videos gesehen!“). Definitiv alle waren neugierig.
„Die Kurzfassung: Bach beschleunigt Radieschen um circa 10 Prozent. Metallica bremst aus und lässt manche sogar wieder eingehen. Gleiche Lautstärke übrigens. Ich werd das noch ein paar Mal wiederholen, kann‘s eigentlich noch nicht so richtig glauben…“ Milde Überraschung bei den Skeptikern, erfreutes Nicken bei den Überzeugten. Man sieht, dass Fragen formuliert werden.
In dem Moment geht die Tür auf. Ein Neuer tritt zögerlich ein.
„Hallo… äh… ich bin der Dirk. Ist das hier die Gärtnergruppe? Ich hab ein Problem.“
„Komm rein“, sagt Jürgen, nickt und rückt einen Stuhl zurecht. „Setz dich. Hast du auch zu viele Tomaten angesät?“
„Noch nicht. Ich wollte fragen, ob Blaukorn okay ist?“
Schweigen. Ein leichtes Zucken bei Doris. Mandy schluckt etwas zu hörbar. Jürgen zückt bereits einen Infoflyer. Uwe sagt nur: „Wir reden nach dem Tee darüber.“
Am Ende der Sitzung verteilt Daniel kleine Ziplocbeutel, benamst mit Tomatensorten. „Ich hätte noch Tigerette, Black Krim und drei Sorten, die ich aus nem neuen Forum hab, aber die Etiketten sind abgefallen. Waren alles Sorten, die sehr robust sein sollen. Hab dort 10 Sorten her, die Liste geb‘ ich euch dazu und im Sommer können wir dann versuchen, die zu identifizieren. Hab von jeder Sorte 15 Samen, alle aus dem Vorjahr, kein überlagertes Zeug.“
Alle nicken wissend. Mandy nimmt je drei. Uwe insgesamt zehn. Der Neue bekommt Beutel mit je 4 Samen in die Hand gedrückt, bevor er „nein danke“ sagen kann. Er bedankt sich brav, Dirk ist damit endgültig aufgenommen.
Während sich der Raum langsam leert, hört man Tobias leise zu Uwe sagen:
„Ich denke, ich bau die neue Lampe mit Solarpanel für tagsüber. Und WLAN-Steuerung über‘n Home Assistant auf dem neuen Miniserver…“
Niemand lacht. Alle denken dasselbe:
Frühling. Der Wahnsinn beginnt wieder. Endlich.
Ich hab übrigens wieder ähnlich viele Tomaten gesät wie 2024: 25 Sorten, insgesamt über 200 Samen. Hoffentlich gehen nicht alle auf.
[…] * Update: Inzwischen gab’s ne weitere Gruppensitzung. […]
geil, äusserst unterhaltsam!! love it! Danke Daniel! :-))
Freut mich, wenn’s euch gefällt! 🙂
[…] Teil 2 der Anonymen Gärtner kommt scheinbar gut an, das freut mich sehr. Nicht wegen des Egoboosts (zumindest rede ich mir das […]